Pathologisierung als themenübergreifendes Unterdrückungswerkzeug
Ich stehe in der Toilettenschlange in einem linken Hausprojekt.
Während ich warte, schweifen meine Augen über die Stickerlandschaft der Tür:
Refugees Wellcome, fight sexism, Kill a TERF, Kein-Raum-der-AFD. Kein Thema scheint zu fehlen. Die sich überlappenden Slogans bilden ein Mosaik aus linken Kampfansagen.
Direkt in Höhe meines Gesichtes ein mir neuer Sticker welcher einen Soldaten abbildet.
Dieser ist gerade damit beschäftigt sich Patronen, aus scheinbarem Vergnügen, in die Nase zu stecken. Unwissend grinsend sieht das Klischee in die Kamera.
Der Schriftzug des Stickers: „Support our troups. No, seriously, they need mental health care.“ Übersetzt: Unterstützt unsere Truppen. Nein ernsthaft, sie brauchen psychische Gesundheitsfürsorge.
Was der Sticker sagen möchte: Schau her, Soldaten sind so unzurechnungsfähig. Sie bringen sich in Lebensgefahr, einfach aus Spaß, sie denken nicht mal darüber nach, sie sind ver_rückt*.
Sie brauchen Hilfe. Hilfe für ihren Kopf, denn dieser kann nicht gesund und vernünftig sein, vor allem nicht wenn sie stolze Soldaten sind.
Witze zu erklären macht diese langweilig. Wenn wir allerdings betrachten, was tiefer dahintersteht, wird es spannend. Warum funktioniert dieser Witz?
Eine wohlgesonnene Interpretation würde behaupten, dass es um Soldaten gehen könnte, welche durch Einsätze traumatisiert sind oder der Inhalt sich an das unzureichende Angebot von Therapie im Gesundheitssystem richtet. Das gewählte Bild im Zusammenhang mit dem Text lässt aber leider nur eine weniger nett gemeinte Deutung zu.
Das Militär steht als ausführender Gewaltapparat von einer von vielen Herrschaftsstrukturen traditionell in linker Kritik. Soldaten sind daher für viele Linke ein Feindbild,Symbol für gewaltvolle Unterdrückung durch den Aufbau von kolonialer Herrschaft und bis heute unzureichend aufgearbeiteten Genoziden.
Die Abbildung nutzt allerdings eine Anspielung auf sogenannte psychische Krankheit als Angriff, anstatt als fundierte Kritik. Doch warum ist es demütigend sogenannte psychische Gesundheitsprobleme zu haben oder gar als ver_rückt zu gelten?
In unserer Gesellschaft hat die Abwertung von Anderen Formen des Denkens und Handels eine lange Geschichte. Soziale Normen, wie Menschen sich zu verhalten und wie diese ihre Umwelt wahrzunehmen haben, bestimmen durch das Bild des „vernünftigen Menschen“ das tägliche Lesen von normalem Verhalten.
Die Norm ist allerdings nicht davon bestimmt, was wir individuell für uns selbst als gesund und richtig betrachten. Die Definition von gesundem Verhalten wird durch die vorherrschenden Machtstrukturen bestimmt und wird somit als Unterdrückungswerkzeug gegen Menschen mit abweichenden Lebensrealitäten benutzt.
So wurden auch Frauen durch Pathologisierung eigener Bedürfnisse seit je her bis heute unterdrückt. Pathologisierung bedeutet, dass Empfindungen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen durch herrschende Normen als krankhaft definiert werden. Somit wird ihnen jegliches Recht auf die eigene Definition ihrer Bedürfnisse aberkannt. Historisch betrachtet waren schon der Norm abweichende Frauen Repressionen und sexualisierter Gewalt ausgesetzt wie im Beispiel der Hysterie. Bedürfnisse und Rollenabweichungen wurden pathologisiert und mit dieser Herabsetzung Machtstrukturen stabilisiert. Die Behandlungen bestanden aus Misshandlungen und sexualisierten Übergriffen, welche eigenständige und nicht der Norm entsprechende Frauen für ihr Verhalten bestraften. Phyllis Chesler stellt dazu fest: „Wahnsinn und Gefangenschaft spiegeln Aspekte der weiblichen Existenz, sie sind sowohl Strafe dafür, Frau zu sein, wie auch für den Wunsch oder das Wagnis, es nicht zu sein.“ (vgl.Chesler:1974:14) Das bedeutet, das nicht nur „typisch“ weibliche Eigenschaften pathologisiert und abgewertet werden, sondern patriarchale Unterdrückungen tatsächliche Krisen und Traumaerfahrungen erzeugt. Letztlich verstärkt Pathologisierung auch die Verbindung zwischen Rassismen und Sexismen: W_o_C werden z.B wesentlich schneller als unberechenbar/ver_rückt bezeichnet oder durch rassistische Zuschreibungen als gefährlich betrachtet als weiße Personen.
Auch Trans-sein und sexuelle Orientierungen, welche von der heterosexuellen Norm abweichen, werden nach wie vor pathologisiert. Homo- und Transfeindlichkeit erfahren durch Einordnung in diagnostische Krankheitsbilder so eine vermeintlich wissenschaftliche Rechtfertigung, welche den Zugang zu gleichen Rechten und medizinischer Versorgung verhindert.
So werden Körper, Lebensrealitäten und Bedürfnis durch Pathologisierung an das Gesundheitssystem gebunden, um die Definitionsmacht im Sinne der heteronormativen Vorstellungen zu behalten. Für Teile der Transition von trans Personen, wie zum Beispiel der Hormonersatztherapie, müssen Trans Personen zwangsweise eine Therapie machen um Zugang zu Finanzierung zu erhalten.
Sanistisch geprägte Gesellschaftszusammenhänge stützen diese Argumentationsstrategie: Ver_rücktheit wird meistens als etwas schlechtes gesehen. Durch die Pathologisierung von Bedürfnissen und Lebensrealitäten die z.B aus der heteronormativen Norm fallen, können diese somit automatisch durch ableismus/sanismus herabgesetzt und unsichtbar gemacht werden. Die Vorstellung von Vernunft, welches durch weiße heterosexuelle abled cis Männer geprägt wird, kann so kontinuierlich Pathologisierung benutzen, um patriarchale Zustände aufrecht zu erhalten.
Pathologisierung ist somit eine nicht zu unterschätzende Waffe gegen politische Gegner_innen, welche in verschiedenen Formen sich erfolgreich als Strategie halten konnte.
Pathologisieren wir unsere politischen Feinde, nutzen wir demnach ein Machtinstrument, welches unsere Argumentation alles andere als emanzipatorisch macht. Schlimmer noch: die Kämpfe von Menschen, welche als ver_rückt kategorisiert werden, werfen wir somit unsolidarisch vor den Bus der vermeintlichen Rebellion.
Sich innerhalb des Psychiatriesystems zu bewegen, also z.B eine Akte aufgrund von der Diagnose Depression zu haben, von der Außenwelt durch ungewohntes Verhalten als ver_rückt gesehen zu werden, eine Krise außerhalb des privaten transparent zu machen oder tatsächlich psychiatrisch institutionalisiert zu werden, bedeutet in unserer Gesellschaft gegenwärtig vor allem eins: Stigmatisierung.
Ver_rücktheit und Krisen gelten als Schwächen, welche durch die negative Besetzung keinen Raum bieten, einen offenen und bewussten Umgang zu schaffen und Unterstützungsangebote zu bieten. Feinde als psychisch krank zu bezeichnen wiederholt das Echo in unseren Köpfen, welches letztlich in diesem Beispiel eine Person in einer Krise mit einem politischen Gegner gleichsetzt. Solidarität sieht anders aus.
Neben dem Fehlen eines befreienden Anspruchs für alle Menschen verfängt sich das Pathologisieren von Feinden in einem weiteren Strick. Ver_rückte Menschen werden oft nicht als ernstzunehmender Teil unserer Gesellschaft angesehen. In der Praxis bedeutet das fehlende Unterstützung, Misshandlung und Psychiatrie. In der Theorie, in welcher wir gegen Etwas argumentieren wollen, führt dies zu einem politischen Vakuum. Nazis sind schlichtweg dumm und ver_rückt? Super, wir müssen uns also keine weiteren Gedanken mehr machen.
Wir bleiben mit unserer Kritik auf einer uns ansozialisierten Oberfläche kleben, auf welcher wir uns nicht ernsthaft mit den Rassismen, Sexismen und der toxischen Männlichkeit, welche unsere Gesellschaft tief durchziehen, auseinandersetzen müssen. In dieser Logik sind ver_rückte Menschen keine Menschen. Somit müssen wir uns nicht die Frage stellen, welche Prozesse in Verbindung mit unserer Geschichte passierten, oder dass es nach wie vor menschenverachtende Bewegungen gibt.
Soldaten psychische Probleme bzw. so Unzurechnungsfähigkeit anzudichten, wirft uns somit auf drei Ebenen in unseren Kämpfen nach Freiheit und Gleichberechtigung weit zurück:
wir stellen die Politik, welche wir kritisieren wollen, auf die Randlinie des Spielfeldes unserer Debatte, indem wir dieser einfach die „Vernünftigkeit“ absprechen. Da dies nur ein Strohmann für eine fundierte Kritik ist, ist diese genauso nutzlos wie eine Leerstelle welche mit warmer Luft gefüllt ist. Die Gleichsetzung von grausamer Politik und die Vielfalt der Menschlichen Erfahrung, die Binär in Normal und Ver_rückt eingeteilt wird ist für Betroffene zudem Schmerzhaft. Es wiederholt, was wir ohnehin schon tagtäglich erleben müssen: wir werden nicht als Teil dieser Gesellschaft betrachtet.
Wir haben ein Recht auf Selbstbestimmung und Diskriminierungsfreiheit. Ansonsten müssen wir weiter verstecken, wer wir sind, und welche vielleicht schweren Zeiten wir durchleben, weil auch in linken Strukturen die Stigmatisierung und somit die Gefahr von Ausgrenzung und Gewalterfahrung erheblich zu groß ist. Es erschwert unsere Kämpfe für Akzeptanz und selbstverwaltete Hilfsangebote. Wenn Räume für ver_rückt bezeichnete Menschen so verschlossen werden, kostet das im schlimmsten Fall unsere Leben.
Emanzipatorische Bewegungen wollen Hierarchien abschaffen und selbstbestimmt unser Leben miteinander organisieren. Uns ist mittlerweile bewusst, das Hierarchien sich nicht nur durch staatliche Systeme und die daran hängenden Institutionen manifestieren, sondern auch in uns, als unfreiwilligen Teil dessen. Wenn Menschenleben den gleichen Stellenwert einnehmen sollen, dann müssen wir weiter darüber nachdenken, wer von wem als Mensch definiert wird – und zu welchem Zweck. Soziale Normen bestimmen bewusst und unbewusst das Einlesen von vermeidlich normalen und gesunden Verhaltensweisen und Lebensrealitäten.
Wenn auch Pathologisierung als repressives Unterdrückungswerkzeug in verschiedenen Kämpfen erkannt wird, können wir mit einer intersektionalen Betrachtung der Verhältnisse das Leben für alle lebenswerter gestalten.
Wenn wir Menschen als autonome soziale Wesen respektieren wollen, müssen wir aufhören ihre Lebenssituationen oder ihre Wahrnehmungsrealitäten als aus der Reihe fallend oder krankhaft abzuwerten. Es braucht eine Solidarität mit allen Lebensrealitäten. Anstatt menschenfeindliche Schablonen zu befeuern, muss uns bewusst werden, was pathologisierende Mechanismen in Befreiungskämpfen bedeuten. Lernen wir aus Pathologisierungen, die z.B FLINT Personen das Recht auf Selbstbestimmung verwehrten und es immer noch tun, sollten wir den Begriff des Ver_rückseins gänzlich als alten Gedanken einer toxischen Weltordnung verwerfen und alte Phychiatriestrukturen offensiv angreifen und Peer Support und Unterstützung von alternativen Projekten als Praxis entablieren. Wir benötigen die herrschenden Normen und Begriffe nicht, mit denen wir die Kämpfe der Anti- Psychiatriebewegung einreißen. Denn eigentlich haben wir eh viel bessere Argumente.
*Der mitgeschriebene Unterstrich in dem Wort ver_rückt möchte verdeutlichen, das hinter dieser Bezeichnung oft Fremdbestimmung nach diskriminierenden gesellschaftlichen Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen stehen, welche Menschen nach herrschenden Vorstellungen wieder „gerade rücken“ wollen.
Quellen
Chesler, Phyllis (1974): Frauen- das verrückte Geschlecht? Hamburg